Ein irisches Tagebuch

Das irische Tagebuch von Patrick Steinbach wurde vollständig überarbeitet und ist nun als leicht gekürzte Fassung erhältlich. Der Reiseroman wird am 17.November auf den Stuttgarter Buchwochen (Thema: Gastland Irland) erstmalig vorgestellt.

Eine Motorradtour durch den Südwesten Irlands ist zugleich eine Reise in die Vergangenheit. Das irische Tagebuch von Patrick Steinbach erzählt von den Schrecken und Schönheiten, die man in Irland vor der Einführung des Smoking Bans erleben konnte. Es macht den Leser vertraut mit einem Land, das sich ebenso wandelt wie seine Menschen. Gleichzeitig ist es eine Begegnung mit der eigenen Geschichte.

Witzig – intelligent – philosophisch – Eine Liebeserklärung

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Patrick Steinbach liest auf der Eröffnung der Stuttgarter Buchwochen

Das Gastland der 60. Stuttgarter Buchwochen ist in diesem Jahr Irland.

In der vollbesetzten König-Karl-Halle im Haus der Wirtschaft konnte Patrick Steinbach erstmalig sein Buch Fahrtwind einem hochkarätigem Publikum vorstellen. Neben Textpassagen aus seinem Reiseroman gab es launige Anekdoten und irische Musik auf der Gitarre. An der Eröffnungsveranstaltung nahmen der Wirtschaftsminister Baden-Würtembergs und der Botschafter Irlands Dan Mulhall teil. Ein gelungener Auftakt und eine große Ehre für den deutsch-irischen Autor Patrick Steinbach.

Leseproben aus dem Reiseroman Fahrtwind

Ankunft

Es regnet wie aus Eimern als ich über das scheppernde Metallgitter der Verladerampe fahre. Die Fähre spuckt ihre Innereien wie ein seekranker Walfisch an Land. Da sind sie nun gelandet, die Urlauber, die Heimkehrer, die Flüchtenden und die Motorradfahrer. Ab hier müssen sie alle alleine weiterschauen. Die Abfertigung an der Grenze verläuft unbürokratisch und schnell. Unbürokratisch, weil ein Grinsen und einige Regentropfen im Pass zur Einreise genügen. Und schnell? Ja, was heißt in Irland eigentlich schnell? Man fährt einfach nur über ein paar weitere scheppernde Metallgitter. Dann ist man frei. Man muss überhaupt nicht selber fahren. Schon gar keine Bedenken muss man wegen dem Fahren auf der linken Straßenseite haben. Als Motorradfahrer erst recht nicht. Alles geht von selbst. Eine Blechlawine ergießt sich wie nicht erstarrende bunte Lava in die grünen Hügel von Rosslare.

Im Gänsemarsch schleicht man anfangs nur den anderen hinter her. Dann weitet sich auf ein Mal das Land. Dann ist man wirklich frei. Das eigentliche Festland liegt gut zwanzig Meter über dem Meeresspiegel und stemmt sich von dort aus sanft gegen den Wind. Ein freundliches Grau untermalt die grünen Schatten und spiegelt sich als helles Silber im Asphalt und in den Pfützen wieder. In den Schlaglöchern schlummern kleine schwarze Seen. Was rechts und links bedeutet vergisst man in Irland nach zwei Minuten. Der Himmel fängt gut hundert Meter über meinem Helm an. Von dort schickt er seinen nassen Gruß. Göttliche Rosinen wie Perlen hinab auf die Straße.

Ich bin von der Frische völlig überwältigt. Ich habe einen Fisherman in der Backe und ziehe das Visier etwas tiefer. Dann gebe ich Gas. Ritterhelm mit Röntgenaugen. Schon nach einigen Kilometern haben sich die Autos und Gespanne verteilt oder eingependelt, so dass es scheinen möchte, der Walfisch hätte die Hälfte seines Erbrochenen wieder eingesogen.

Gulliver

Der irische Autor Jonathan Swift beschreibt die abenteuerliche Reise Gullivers in die Lilliputanerwelt. In aufdringlichen Metaphern schuf Swift eine literarische Legende, einen irischen Mythos, ein Sinnbild für den Reisenden und den Heimatlosen an sich. Sei es der Ire, der ins Exil wandern muss, um auch dort von den vielen kleinen Dingen des Lebens aufgehalten zu werden, oder sei es der für seine Welt zu groß Geratene und so unweigerlich zum Scheitern Verurteilte Ein Selbstüberschätzer. Ein Verlierer ist er allemal. Dafür aber einer, mit einer ziemlich guten Aussicht. Aber es passt halt nicht immer in die göttlichen Spielregeln, dass man einfach nur mal so alle Viere von sich strecken kann, ohne dass einen gleich eine ganze Horde Zecken überfällt.

Ja, man ist in Irland stets von sich selbst und seinen eigenen Reflektionen betroffen, in dieser Weite und Offenheit, durch die Kargheit der Landstriche immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen, gespiegelt an dem Fels, verloren in den Wolken, den Gräsern und Steinen, gebrochen an dem Lächeln eines alten Bauern, der trotz all seiner Last und Verklemmungen über eine Art Lebensphilosophie verfügt, deren Einfachheit und Güte fast jedem spirituellem System, von dem wir je gehört haben, durch alltägliche Notwendigkeit und Beschränkung auf das Wichtige und Wesentliche im Leben weit überlegen ist und unserer eigenen engstirnigen bornierten Lebenssicht nicht nur das Wasser reicht, sondern gleich eine ganze Flasche Whiskey.

Irland ist so etwas wie eine endlose Brandung von empor gespülten Korken und Erinnerungen, die unmöglich nur den eigenen Fantasien entsprungen sein können, Fragmente einer anderen Zeit, einer anderen Welt, die sich durch das menschliche Kontinuum als Archetypus bewahrt haben. Sich ständig selbst anklagend, sich ständig selbst verstümmelnd, sich ständig selbst bemitleidend, überall ist Geschichte. Und sich so immer wieder seine eigene Vergangenheit abfragend, sich selber mit dem Glauben an Unverwundbarkeit tröstend und seine Lebendigkeit testend wird der Irlandreisende automatisch zum Seelenwanderer durch die eigenen Abgründe, je nachdem, wie weit er diese Zeitreise und die Konfrontation mit sich selber zulässt. Projektionsflächen gibt es in Irland wie Guinness in der Kneipe. Irland macht betroffen und besoffen vor Glück. Wenn man in der Lage ist, sich in Irland zu Hause zu fühlen, dann ist man auch wirklich irgendwo zu Hause angekommen. Das spürt man. Das Hier und Jetzt völlig losgelöst von den alltäglichen Verstrickungen, in einer anderen Zeit und in einem anderem Raum.

Klippen

Mein Blick wandert über den Horizont. Ich sauge alles gierig auf. Wie lange ist das alles her? Das Meer ist beruhigend dunkel. Nur an den Klippen zerbricht sein gewaltiges Brausen und Begehren in brodelnde weiße Gischt. Mit schäumender Freude wirft der Ozean seinen Überfluss an Land und färbt die dunklen Felsen, Nischen und Grotten mit sprühendem weißen Wasser. Hier verwandelt sich das Wasser in brodelnde Luft. Pure Alchemie. Die Schnittstelle zwischen Meer und Land wird mit einem strudelnden und brüllenden fraktalen Hochzeitsband verziert.

Das Schauspiel der sich immer wieder am Felsen aufbäumender Wellen und wieder ablaufender Strudel, der sich immer wieder begehrenden und sich stets zurückziehenden weißen Wirbel ist überwältigend. Mein Blick wandert die zerklüfteten Felsen hinab.

Zu meiner Linken sehe ich sehe ungefähr zweihundert Meter weiter eine etwas merkwürdig gebeugte Gestalt, ein Mann, der auf einem Felsvorsprung steht und ebenfalls ins Meer schaut. Irgendwie hat der ziemlich komische Proportionen. Von meiner Perspektive sieht es so aus, als hätte er nicht nur einen riesigen Oberkörper sonder auch abwechselnd zwei und dann mal wieder drei Arme. Irgendetwas stimmt auch mit seinen Beinen nicht. Je länger ich allerdings hinschaue, desto mehr realisiere ich, dass es sich hier nicht um die Wiederkehr des legendären Oktopusmannes von Baltimore handelt, sondern um ein eng umschlungenes Liebespaar.

Ja, es sind zwei junge Leute, die auf dem Felsen stehen, sich umarmen und dabei ins Meer blicken. Ich ziehe an meiner Zigarette und beobachte das Pärchen. Ich zerdrücke die Glut an einem Felsstück so dass einige Funken davon fliegen. Ich atme tief aus und schaue den Möwen und den Booten nach. Nebel, Rauch und Wind stimmen das Gesicht friedlich und hinterlassen einen salzigen, leicht bitteren Geschmack auf der Zunge.

Ich muss immer wieder zu dem Paar hinüber blicken. Sie bewegen sich fast nicht und scheinen völlig vereint und friedlich den fantastischen Ausblick zu genießen. Ich glaube, mit dem Oktopusmann hätte ich besser umgehen können.

Kein Land der Welt verbündet sich so stark mit deiner Traurigkeit wie Irland. Kaum ein anderes Land schafft es dich dermaßen weich zu spülen. Man wird es dir noch nicht einmal anmerken. Es passiert ganz unterschwellig. Genauso wenig wie du bemerkst, wie langsam die Luft aus deinem Hinterrad entweicht. Es ist nicht das Land an sich oder ein bestimmter Ort oder ein besonderer Pub. Es ist ganz einfach das Gefühl zu Hause zu sein. Irgendwo. Dort draußen. Du findest ein Stückchen weiter zu dir selber. Den Grad bestimmst alleine du.

Ich habe ganz tief hineingeschaut. In die Bruchstellen und Felsspalten und die Narben im Feld und die Furchen im Himmel. Ich habe die Brandung gesehen. Und den Regenbogen am Abendhimmel, der einfach nicht verschwinden wollte, selbst als es schon fast ganz dunkel war. Wenn du anfängst, dich selbst dort drinnen wieder zu finden und wiederzuerkennen, dann hat sich die Welt mit dir verbündet. Du bist zwar traurig aber zu Hause und trotz allem heilfroh, dass du solange überlebt hast, dass du das noch miterleben durftest. Daran wirst du in Irland erinnert. Jederzeit.

Brandung

Man kann es ganz genau beobachten. Man muss es überhaupt nicht wissen. Man sieht es ganz einfach. Es ist da. Man wird es glauben, wenn man es sieht. Dann weiß man, dass man Recht hatte. Vielleicht ist es auch nur, dass wir denken wie gut es war, dass wir uns auf den Weg gemacht haben, heil angekommen sind, um nun diesem simplen Beispiel beizuwohnen. Lange ist es her, seitdem wir es das letzte Mal gesehen haben. Herbeigesehnte Erinnerung. Wie tust du weh, wenn du wirklich da bist. Wenn ich in die Brandung schaue, dann sehe ich wie die Elemente verrückt spielen. Immer wieder. Alle viere oder noch viel mehr.Ich sehe etwas, und irgendetwas in mir erinnert sich daran wie es war, als wir noch dazu gehörten und die Gleichung noch verstanden, die so einfach war, dass selbst Worte zu abstrakt erscheinen würden, um sie zu beschreiben. Es spült sich ganz von selbst an Land. Das Lachen. Du merkst, wie dir die Augen wässrig werden. Das ist die Verbindung. Das Wasser bringt es zurück. Auf seine Kraft reagiere ich am stärksten. Andere Menschen haben andere Elemente als Auslöser. Andere erblicken einen Stein und erweichen, weil sie plötzlich etwas verstehen. Andere reagieren auf einen deftigen Luftstoß am besten. Andere benötigen einen kleinen Tritt, manche nur einen Sonnenstrahl, um sich zu verändern. Ja, die lieben Elemente. Sie alle zusammen lösen sich doch immer noch am besten in Irland auf.

Wenn das Meer seine Wellen an Land wirft und sie sich brechen an dem Fels, empor geschleuderte Fontänen von weiß schäumender Kraft, wenn die Wogen in der Luft verdampfen, würdest du dieses aufgebrachte Wasser dann noch Meer nennen? Ist die Gischt noch Ozean? Gehört der Dampf zur See? Nein. Die einzelnen Tropfen haben sich aus ihrem Zusammenhang gelöst und verflüchtigt. Sie sind nun getrennt. Sie reisen in der Luft. Sofort haben sie ihre eigentümliche Bedeutung verloren. Die Worte genügen nicht mehr um sie zu beschreiben.

Zwar stammen sie alle noch vom Ganzen, vom Meer ab, doch kleiden wir sie unverzüglich in abgrenzende Begrifflichkeit. Wellenbrecher über Wellenbrecher schmeißen ihre feuchte Fracht in die Luft wie schwebende Zirkusbälle. Diese Tropfen sind kein Meer mehr. Sie gehören nicht mehr dazu. Vielleicht später wieder, wenn sie zerplatzen und an den scharfen Kanten und Steinen zurückfließen. Wenn sich die Schwerkraft wieder besinnt. Ja. Aber ein Meer in der Luft? Das gibt es nicht. Das Kleid der Worte begrenzt die Wirklichkeit und schickt die Wahrheit ins Gefängnis. Oder zurück an die Klippen. Dort ist sie ja zu Hause.

Man kann es ganz genau beobachten. Man muss es überhaupt nicht wissen.

Deckenbeleuchtung

Triumph ist ein seltenes, aber trotzdem ein sehr erhabenes Gefühl. Es überkommt mich jedes Mal, wenn ich ein neues, schönes, frisches Bier bekomme. Wie eine Siegestrophäe halte ich das Glas gegen das Licht und überprüfe somit die Intensität und das Spektrum der einfallenden Lichtstrahlen. Das ist übrigens ein echt interessanter Versuch, der sowohl Aufschluss gibt über die Konsistenz des Bieres als auch über die Qualität der Deckenbeleuchtung. Bei einem Stout würde man jetzt gar nichts sehen. Physikalisch völlig dunkel. Aber bei einem Hellen, da brechen sich die Lichtwellen in den kleinen pulsierenden Bläschen, die sich am Rand des Glases spiegeln bevor sie zerplatzen und kurz Blitze in den Regenbogen-farben aussenden. Hast du das gesehen? Regenbogen im Bierglas?

Da stehe ich nun, halte mein Glas empor und prüfe nacheinander sämtliche Lichtquellen des Pubs. Alles spiegelt und bricht, verdoppelt und vervielfacht sich wie in einem verrückten Kaleidoskop. Da sehe ich plötzlich durch das Glas das Glupschauge der Wirtin, wie es mich böse anstarrt. Ich halte das Bierglas zur Seite und sehe eine normal, freundlich blickende Wirtin. Echt lustig, wenn ich das Glas wieder vor ihr Gesicht halte. Da verwandelt sie sich in eine grässliche Froschfratze mit einem einzigen großen Zyklopenauge. Die Backen ziehen sich lang wie Gummi. Natürlich darf ich es nicht übertreiben. Ich tue so, als wäre das ein Teil meiner Feldstudien und lächele etwas verlegen zurück. Ich nehme einen kleinen Schluck.

„We say: Prost! You know?“, sage ich in manierlichem Englisch.

Ich nicke ihr zu und halte das Glas zum Gruße empor. Dann flaniere ich hinüber zu der Ledergarnitur. Dort werde ich es mir gemütlich machen. Meinen Rucksack stelle ich unter den Tisch.

Ich zünde mir eine Zigarette an und lehne mich zurück. Das ist jedesmal eine echte Entscheidung. Ich meine nicht die Zigarette. Das Hinsetzen. Man kann in einem irischen Pub in der Lounge nicht einfach nur dahocken. Entweder man sitzt aufrecht am Rand der Couch oder man liegt halb darin wie auf einem Gynäkologenstuhl.

Ich schaue mich um und entdecke einige Zeitungsauschnitte, die eingerahmt an der Wand hängen. Ich muss mich nur etwas nach vorne beugen, damit ich die Überschrift entziffern kann. Doch plötzlich erfüllt eine merkwürdige Hintergrundmusik den Raum und mich mit unerwartetem Grauen. Ja. Hier ist es wieder. Dieses unbarmherzige und gemeine Irland. Ich sehe es ganz deutlich vor mir.

Ein alter Mann ist auf ein kleines Podest gestiegen und hat sich eine knallrote chinesische Billiggitarre umgehängt. Nach einigen verzweifelten Schlucken aus dem Bierglas, erkenne ich langsam, dass der Mann das alte Lied Country Roads singt. Er singt es mit dem Gesichtsausdruck eines Buchhalters bei der Endabrechnung und mit dem Elan eines pensionierten Postboten. Country Roads hätte selbst Buddha wahnsinnig gemacht. Der alte Mann blickt grimmig zu mir herüber. Es gehört wohl einfach dazu, dass man in einer abgelegenen irischen Taverne schmalzige amerikanische Countryballaden hört und dabei leichtes Heimweh bekommt. Mein Blick bleibt wieder an den Zeitungsausschnitten hängen. Auf dem Titelbild einer Zeitung ist eine Kuh zu sehen. Ganz vorne im Bild ist ihre fette Schnauze. Im Hintergrund stehen viele Leute. Es muss in irgendeiner Kneipe aufgenommen worden sein. Die Kuh steht umringt von einer Horde grinsender Bauern und hebt ihren Kopf über den Tresen. Im Bildrand sieht man noch ein Glas Bier, das ihr hingehalten wird. Die Kuh scheint gerade einen großen Schluck getan zu haben.

Sie sieht sehr glücklich aus. Auf dem Tresen ist eine riesige Bierlache. Alle scheinen sich zu freuen. Dann lese ich, dass es die älteste Kuh Irlands ist. Achtundvierzig Jahre hat sie auf dem Buckel und lässt sich nun vor laufender Kamera abfüllen. Das scheint sie am liebsten zu haben, denn sie ist schon längere Zeit die älteste Kuh Irlands. Zwar habe man in Irland erst lange Zeit nach der angeblichen Geburt dieser Kuh eine Form der Registrierung eingeführt, so dass man es halt nicht mit Sicherheit sagen könnte, aber Farmer Jeromy Leary schwört Stein und Bein, dass es schon immer seine Kuh gewesen wäre. Er sei ja schließlich auch schon weit über fünfzig. Wenn man das Porträt von dem guten Jeromy und der Kuh vergleicht, kann man sogar leichte Verwandtschaftszüge feststellen. Niemand zweifelt ernsthaft daran, dass seine Kuh die älteste ist und am liebsten Stout trinkt. Dann lese ich, dass die Feier in der Blackwater Tavern stattgefunden hat. Letztes Jahr irgendwann im August.

Dann sehe ich mir das Bild noch einmal an. Die haben genau in dieser Kneipe diese verdammte alte Kuh abgefüllt. Keine drei Meter von mir entfernt. Ich stelle fest, dass mein Pint bald alle wird. Ich werfe einen gezielten Blick in Thekenrichtung und zähle die Schritte zusammen, die ich zum Laufen brauchen würde. Es ist eine Zahl, mit der ich leben kann. Das Lied hat aufgehört. Ich stelle das Glas auf den Tisch und klatsche verlegen zweimal in die Hände. Dann schaue ich rüber zu dem Sänger, der gerade eine Seite auf seinem Notenständer umblättert und sich die Hornbrille zurechtsetzt. Der arme Kerl steht ganz alleine in der Ecke auf einem kleinen Podest. Plötzlich setzt ein Rhythmus ein, der aus einem aufgestellten Drumcomputer kommt. Eine schrecklich einfallslose, elektronische Begleitung unterstützt ihn nun in seinem Auftritt. Es ist wirklich grausam mit anzusehen. Er verpasst den Einstieg, hangelt sich durch die erste Strophe und fängt sich erst wieder im Refrain, den er mit derselben ausdruckslosen Stimme singt, wie beim Lied zuvor. Ich trinke den letzten Schluck und schließe die Augen. Mein Entschluss steht fest.
Ich muss noch einmal die Deckenbeleuchtung inspizieren.

Ein weiteres Lichtmessexperiment könnte mich vielleicht von der Musik ablenken. Ich hole tief Luft und stehe auf.

Der einzige Baum des Burren

Man sagt, in Kilfenora würde der einzige Baum des Burren stehen. Aber das stimmt nicht. Ein zweiter steht etwa 3,5 Meilen weiter an der Kreuzung von der R 476 und der R 480 direkt neben einer imposanten Schlossruine. Düster ragt das Leamaneh Castle in den Nachmittaghimmel. Mit seinen vergitterten Fenstern, dem fehlenden Dach und den dunklen Schatten, die es wirft, wäre das im Jahr 1480 erbaute Turmhaus die ideale Kulisse für einen Edgar Allan Poe Film. Ein Schwarm Krähen umfliegt das Gemäuer. Es ist ihr Revier. Ich hoffe bloß, dass sie sich nicht von vorbeifahrenden Postboten oder Motorradfahrern ernähren. Man sieht sofort, dass das Schloss verwunschen ist. Dafür muss man noch nicht einmal besonders abergläubisch sein. Ein unheimliches Licht umgibt die Ruine. Die eingefallenen Festner wirken wie dunkle Augenhöhlen, die einen anstarren. Eine ungewöhnliche üppige Vegetation vor und neben dem Schloss lassen Fürchterliches erahnen. Wieso ist gerade hier im sonst so trostlosen Burren das Gras so besonders grün? Wieso wächst der zweite Baum des Burrens ausgerechnet hier? Die Legenden sagen, dass die Ehefrau von Connor O´Brien, Mary Rua, nach dessen Tod im Jahr 1651 die alleinige Herrscherin über das Castle war. Es ist nicht ganz geklärt, ob sie den Namen Red Mary wegen ihrer roten Haare bekam, oder wegen dem vielen Blut, das sie vergossen haben soll. Männer und Frauen wurden an den Wänden aufgehängt. Mal mit dem Kopf nach oben, mal mit dem Kopf nach unten. Andere wurden einfach von der Mauer gestoßen. Mit an Wahnsinn grenzender Herrschsucht und einer brutalen Unberechenbarkeit erhielt sie schon zu Lebzeiten den Ruf einer vom Teufel besessenen Frau. Mich würde es nicht wundern, wenn Boris Karloff persönlich die Tür öffnen würde, aber zum Glück finde ich den schweren Türknauf nicht. Nein, das ist kein Ort zum Verweilen. Es ist gruselig. Die Krähen stoßen Laute aus, die nicht aus dem Tierreich zu kommen scheinen. Vielleicht haben die vielen Verstorbenen neue Körper gefunden und versuchen nun zu uns zu sprechen. Leider Pech, dass ich kein Krähisch kann. Ich lasse den Motor meiner Maschine aufheulen, so dass ich die blöden Viecher nicht mehr höre. Der Maschienensound gefällt mir auch viel besser.

Brrrrmmmmhhh!

Kylemore Abbey

Der Connemara National Park beginnt kurz vor Letterfrack und kündigt sich mit dichten Wäldern an. Der Anblick von Wald ist so erschreckend ungewohnt, dass man sich kurz sogar in den Schwarzwald versetzt fühlt.

Fast ist man erleichtert, wenn man in der Ferne wieder einen kahlen Hügel sieht. Kahl ist cool. Dann kommt die Kylemore Abbey.

Erbaut wurde das Schloss im Gothischen Stil zwischen 1867 und 1871 von Mitchell und Margaret Henry. Seit 1920 ist es das Domizil eines im Jahr 1665 in Belgien gegründeten Benediktinerinnenordens. Es liegt malerisch an einem See und ist geradezu geschaffen für ein Motiv auf einer Postkarte. Auf dem Parkplatz vor der Abtei steht ein Reisebus. Das heißt, dass die Kapelle noch geöffnet hat. Ich fahre mit dem Motorrad so dicht heran, wie es mir erlaubt ist. Neben einer Schranke halte ich und steige ab.

Da kommt mir auch schon die komplette Reisegesellschaft entgegen. Es sind Rentner. Der männliche Teil trägt eine Art Einheitslook aus Tennissocken, Sandalen und weißen Beinen in kurzen Hosen, die bis unter die Brust hochgezogen sind, als könnte man so den Bauch verbergen, womit auch schon die Nationalität feststeht und ich mich ein klein wenig zu schämen beginne. Vielleicht waren sie nach ihrem beschaulichen Rundgang durch die nahegelegenen Gärten nicht auf solch einen Anblick vorbereitet. Eine ältere Dame bekreuzigt sich sogar als sie mich sieht.
Ich muss schmunzeln.

„Gott behüte dich, mein Kind!“, entfährt es mir in pastoralem Ton.
Ich glaube, sie hat es gehört. Sie lächelt. Nein, ein Priester auf einem Motorrad, der sie segnet. Sie glaubt es nicht. Bevor sie sich aber niederknien kann, stehe ich schon vor dem Eingang.

„It´s closed!“, höre ich knapp und nicht gerade freundlich.

Eine Schwester in Ordenstracht und einem Bauchumfang, als wolle sie demnächst alle 12 Apostel auf einmal auf die Welt bringen, ist dabei die schwere Eichentür zu schließen.

„Wait please. It is important.“

Die Tür ist nur noch einen Spalt geöffnet, viel zu wenig, um einen Fuß dazwischen zu tun. Aber genug für ihre Adlernase. Ein grimmiges Gesicht blickt zu mir hoch.

„I said we are closed!“

Ich erkläre ihr, dass ich unbedingt beten müsse. Es wäre sehr wichtig. Ich hätte ein Gelübde abgelegt, das ich unter keinen Umständen brechen dürfe. Sie beäugt mich äußerst skeptisch. Sie ist unschlüssig und scheint mir nicht zu trauen. Ich sage ihr, ich möchte in gar keinem Fall ihren Tagesablauf durcheinander bringen. Nonnen wären viel beschäftigt und hätten einen strikten Plan, wann und was zu machen sei. Das würde ich wissen. Ich würde überhaupt nicht stören. Es ginge nur um ein kleines Gebet. Fünf Minuten. Mit einem flehenden Blick, als ginge es um die Verhinderung des Weltunterganges, erreiche ich schließlich die Erweichung der strengen Ordensfrau.

„Two minutes. Hush!“

Ich danke ihr, indem ich spontan ihre Hand nehme und küsse.
Im gleichen Augenblick fällt mir ein, dass ich vorher noch nie eine Nonne geküsst habe. Sie schmeckt dann auch nicht wirklich gut. Der Nonne entweicht ein leises Ooops. Sie zeigt den Gang entlang und macht eine scheuchende Handbewegung. Ich zwinkere ihr zu und gehe in den Kapellraum. Es sieht genauso aus wie ich es in Erinnerung hatte. Ich knie mich hin, falte die Hände und schließe die Augen. Ich versuche meinen Kopf leer zu kriegen von allem weltlichen Schnickschnack, schließlich bemühe ich mich gerade um eine Privataudienz.

„Lieber Gott….“

Ich räuspere mich in Gedanken, schlucke kurz und versuche es nochmal.

„Lieber Gott, kannst du mal bitte….“

Ich merke sogleich, dass es nicht die Ansprache ist, in der man in Irland mit Gott redet. So bekomme ich nie eine Antwort.

Oh, jeh. Eine Minute ist schon vorbei. Ich muss eine Verbindung hinkriegen. Also nächster Versuch.

„Oh, Lord Allmighty. Can you please make…..“

Da merke ich, dass ich nicht alleine in der Kapelle bin. Irgendwie spüre ich eine Anwesenheit, die vorher noch nicht da war. Vielleicht macht Schwester Benedikt nur ihren abendlichen Kontrollgang und guckt, ob ich auch richtig bete. Aber da fällt mir ein, dass Nonnen eigentlich keine Geräusche machen. Sie schweben lautlos über den Kirchenboden und können sogar in zwei Räumen gleichzeitig sein. Scheiße. Nur noch eine halbe Minute.
„Listen, God. There is not much time. Can you please please make that…“

Da spüre ich einen Lufthauch. Mein Nackenhaar stellt sich hoch. Ich traue mich aber nicht die Augen zu öffnen, weil sonst das himmlische Telefonat unterbrochen ist. Es geht nur mit geschlossenen Augen. Da höre ich auf einmal wie aus weiter Ferne und ganz leise Gesang. Zuerst glaube ich es nicht, will es auch gar nicht hören. Ich habe noch fünfzehn Sekunden und ich will mich nicht ablenken lassen. Aber der Gesang wird lauter. Es sind langgetragene tiefe Töne. Ein gregorianischer Männerchor. Da bin ich aber erleichtert. Jetzt bin ich sicher, dass die Verbindung steht. Klar hören die da oben in der Telefonzentrale auch Musik. Das dürfen die neuerdings. Es erhöht die Effizienz und den Teamgeist. In allen modernen Büros und Zahnarztpraxen läuft heute Musik. Dass die da oben keine Rockmusik hören ist doch klar.

„Hey cool, Gott, danke, dass du…..“

Gong. Da sind auch die letzten fünfzehn Sekunden vorbei.

Die Nonne steht neben mir und fasst mich an der Schulter. Ich fahre erschrocken zusammen, da ich im ersten Augenblick denke, ein Engel hätte mich berührt und würde mich nun zum eigentlichen Gespräch vorlassen.

Die Enttäuschung ist ziemlich groß. Mit strengem Blick und einer enorm ausgeprägten Fähigkeit zur direkten Telepathie übermittelt sie mir nur ein einziges Wort: Fort! Die Nonne ist ja auch nur ein Werkzeug in Gottes undurchschaubarem Plan, denke ich. Also vergebe ich ihr, auch wenn ich gerne noch weiter gebetet hätte.

Schweigend verlassen wir die Kapelle. Ich will ihr noch danken, da fällt schon die schwere Eichentür krachend ins Schloss. Die Benediktinerinnen sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Ich sattel wieder auf und brause die N 59 zurück Richtung Clifden. Wieso die streng enthaltsam lebenden Nonnen reine Männermusik hören, darüber denke ich noch lange nach. Es war eine Endloskasette, die leise im Hintergrund lief. Die Boxen befanden sich direkt unter den Bänken. Mönchsgesänge in einem Nonnenkloster sind wie Nackttänzer in der Heilsarmee.

Wahrscheinlich quälen sie damit ihre unterdrückten Dämonen. Gott wird´s wissen. Ich mache einen Abstecher und biege rechts bei Letterfrack ab nach Tully Cross. Es ist nicht weit bis zum Meer. Ein Bauer auf seinem Feld, der gerade sein Heu wendet, sieht mich und winkt mir zu. Eine nette kleine Unterbrechung der Arbeit. Ich winke zurück. Ich liebe es, mit dem Motorrad durch Irland zu fahren, besonders weil fast jeder, dem man unterwegs begegnet, entweder die Hand zum Gruß hebt oder meine Gegenwart mit einem schelmischen Kopfnicken bestätigt. Es ist verrückt. Fast möchte man stehen bleiben, sich noch einmal umdrehen und sich vergewissern, ob man wirklich persönlich gemeint war. Aber Iren drehen sich nicht noch einmal um. Niemals. Sie grüßen dich und machen sich dann ihrer Wege.

Die Sonne Irlands

Die Sonne hat sich in meine Gedanken eingebrannt. Mit der Kraft eines Sturmes und der Schwere der Wolken hat sie sich in meinem Gemüt verewigt. Weit hinein ragen ihre Schatten. Ihre Spalten. Ihre Schmerzen. Weiter noch ihr Licht. Und ewig ihre Farben.
Ja, die Sonne Irlands erinnert mich an dich.

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