Doolin – ein Reiseberichtl

Ein kleines unscheinbares Fischerdorf im Südwesten Irlands, nicht weit von den einmaligen Cliffs of Moher im County Clare, gilt als Epizentrum lebendiger irischer Musikkultur. 365 Tage jeden Abend Musik in den Pubs. Atemberaubende Sessions mit lokalen Musikern und bekannten Künstlern, die die ungezwungene Atmosphäre in den wenigen Kneipen schätzen. Wen wundert es da, dass sich genau hier eine Plattenfirma niedergelassen hat, die als führende Adresse für Irish Folk bezeichnet wird?

Wir wollen einen kurzen Besuch bei Magnetic Music in Doolin machen und sind sehr gespannt auf die nächsten Tage. Gelandet in Farranfore geht es mit dem Mietauto erst einmal in Richtung Killarney zu einem Abstecher in das wunderschöne Gap of Dunloe am Fuße des Carantouhill, den mit 1014 m höchsten Berg Irlands. Dort im letzten Pub vor dem Gap, in Kate Kearney´s Cottage, gibt ein erster Willkommenstrunk Energie für einen gut anderthalb stündigen Spaziergang durch eine atemberaubende Landschaft aus Bergen, kleinen Seen und harmlosen Begrüßungsschauern. Am äußersten Zipfel der Dingle Halbinsel machen wir die erste Station. Während man den Slea Head Drive hoch über dem Meer auf einer engen Küstenstraße entlangfährt, erschließen sich mit jeder Kurve immer wieder neue und immer schönere Aussichten. Die Brandung und die steil abfallenden Klippen, die kleinen Strände, das hügelige Hinterland, all das ist ‚Gaeltacht‘, ein Gebiet, in dem viele Bewohner noch gälisch sprechen. Das kulturelle Programm ist außerhalb der Sommermonate naturgemäß etwas heruntergefahren, da die Pubs fast nur von Einheimischen besucht werden. Wir freuen uns bei einem schönen Pint Guinness auf morgen. Da geht es dann nach Doolin.

In einem kargen Landstrich, genannt der Burren im County Clare an der Westküste Irlands, von dem einst der englische Feldherr Oliver Cromwell meinte: „There is no tree to hang them, there is no river to drown them, there is no earth to bury them, so let them live there!“, ausgerechnet dorthin hat sich nun die irisch traditionelle Folkszene zurückgezogen und ihr Nest gefunden. Ein kleines Fischerdorf am Rande des Burren, jenes auf den ersten Blick so trostlos wirkenden Karstlandes, entwickelte sich seit über mehr als drei Jahrzehnten zu einem magnetischen Zentrum für traditionelle irische Musik. Das landschaftliche Gesicht des Burren hat sich durch den Eingriff des Menschen radikal verändert. Prähistorische Stämme aus dem Neolithikum siedelten hier bereits seit 3500 Jahren vor unserer Zeitrechnung. Mit seinen dichten Wäldern und der Nähe zum Meer bot das Gebiet eine ideale Lebensgrundlage für die Jäger und Sammler. Der aufkommende Ackerbau machte eine großflächige Rodung notwendig, wodurch aber die Landschaft in wenigen Jahrhunderten völlig erodierte und verödete. Heute hat der Burren mit seinen grauen Felsen und dem scheinbaren Fehlen der sonst üppigen Vegetation einen ganz eigenen unverwechselbaren Charakter und einen unglaublichen Charme.

Während die majestätischen Cliffs of Moher das Küstenbild dominieren und bei gutem Wetter eine grandiose Sicht zu den Aran Islands und der Galway Bay versprechen, so finden sich wenige Kilometer im Landesinneren Relikte und Spuren der frühen Siedler. Ringfestungen, Steinwälle und der wohl meistfotografierte Dolmen Irlands, laden zum Wandern und stillem Erkunden ein. Der Poulnabrone Dolmen ist als Rest einer prähistorischen Grabkammer identifiziert worden, die nach der Beerdigungszeremonie wieder mit Erde überschüttet wurde. Es ist nicht überliefert welche Art von Musik die irischen Ureinwohner machten. Erste schriftliche Zeugnisse datieren auf die frühen christlichen Mönche. Die in Stein gemeisselten Darstellungen von Musikinstrumenten zeigen meist eine Harfe. Der Gesang, ein Gedicht, eine Lobpreisung, das war wohl der Zweck der frühen Musik. Sie hatte sich noch nicht von ihrer Aufgabe gelöst, einen Text zu untermalen, so stand das Lied und seine Botschaft immer im Mittelpunkt der Darbietung. Die heute bekannten irischen Lieder entstammen einer gut zweihundert Jahre alten anglo-irischen Balladentradition. Die meisten irischen Tanzstücke sind aber wesentlich älter.
Kurioserweise hat das einzige Land mit einem Musikinstrument als Nationalemblem selber keine eigenen Instrumente hervorgebracht. Weder der irische Dudelsack, noch die Harfe wurden in Irland entwickelt.
Neben der rein mündlichen Weitergabe unter Musikern ist es vor allem der unermüdlichen Arbeit der sogenannten Collectors, der Liedersammler zu verdanken, dass viele wunderschöne Titel überliefert wurden.

Wir besuchen den Irlandspezialisten Petr Pandula in seinem Magnetic Music Cafe, das gleichzeitig Plattenladen, Bistro, Kleinkunstbühne, Wohnhaus, Büro, Lager und Zentrum eines lebendigen Netzwerkes ist. Es ist gleich das erste Haus hinter der Brücke in der nur wenige Gebäude zählenden Fisherstreet in Doolin. Petr Pandula betreibt seit 1990 eine Konzertagentur, mit der er unter dem Label ‚Irish Folk Festivel‘ und ‚St. Patrick´s Day Celebration Festival‘ irische und schottische Musiker nach Deutschland bringt. Gleichzeitig produziert er CDs mit den Künstlern wie eine Art Zeitdokument, in welchem das alte und das neue Irland zusammentrifft. Der liebevolle und respektvolle Umgang mit der irischen Tradition, die differenzierte Sicht auf aktuelles Musikgeschehen und sein Gespür für Trends weisen ihn als gründlichen Irlandkenner aus. Als Siebzehnjähriger kam er zum ersten Mal nach Irland und blieb ganze sechs Wochen. Er feundete sich mit Micho Russell an, dem legendären Flötenspieler von Doolin. Pandula lebte und arbeitete auf Russells Farm und konnte wie kein anderer hinter die Kulissen schauen und dort hautnah erleben, was es heißt, ein lebendiger Teil einer lebendigen Tradition zu sein. Jeden Tag habe er dort einen neuen Tune gelernt und selber mit dem irischen Dudelsack in den umliegenden Pubs gespielt. Als junger Mann ist er 1976 zum ersten Mal zum Irish Folk Festival gegangen und hat dort Leute wie Finbar Furey und Bands wie Clannad und De Danaan gehört. Letzten Endes hat genau dieser Impuls, ein einziger Konzertbesuch, sein Leben maßgeblich geprägt. Die Begeisterung, die er von diesem Event mitbekommen hat, ist auch heute dreißig Jahre später noch zu spüren.

Während wir gemütlich Tee trinken, erzählt uns Petr Pandula, wie es damals war in Doolin, und wieso es die Musiker gerade hierhin zog, um mit ihresgleichen zu spielen. Schon vor über hundert Jahren seien Schriftsteller wie W.B. Yeats, John M. Synge oder Dylan Thomas nach Doolin gekommen und haben gerne gälisch gehört. Auch nahm hier der irische Rundfunk (RTE) zum ersten Mal traditionelle Musiker auf. Es herrschte eine unwahrscheinliche Armut, die Häuser verfielen, oft gab es keinen Strom. Ein Ziel war, so schnell wie möglich fortzuziehen, wo es bessere Lebensgrundlagen gab. England und Amerika waren seit jeher die bevorzugten Länder, in die viele Iren auswanderten. Als dann in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts immer mehr Menschen diese Region besuchten, sich zum Teil dort niederließen und arbeiteten, entstand ein Wandel im Bewustsein über die eigenen Werte. Was konnte an der eigenen Kultur und Tradition so schlecht sein, wenn gerade deretwegen Leute aus dem Ausland kamen und auch ihr Geld mitbrachten. Irische Musik und ihre anstiftende Geselligkeit bekamen wieder einen hohen Wert. Als dann die Wirte aus den umliegenden Pubs dieses immense Potential realisierten, welches die zahlungskräftigen Touristen mit nach Irland brachten, schufen sie für manche Musiker die idealen Arbeitsbedingungen und ließen sie für eine geringe aber sichere Gage auftreten. Gleichzeitig lag Doolin auf der für viele Backpacker interessanten Busroute entlang der Küste, so dass man irgendwann unweigerlich durch Doolin kam. Schnell verbreitete sich dann die Kunde vom irischen ‚Mekka‘ der Folkmusik.

Die Begeisterung für dieses kleine Örtchen als sogenanntes Zentrum scheint bis heute ungebrochen, so dass jeden Sommer Heerscharen kulturbegeisteter Irlandreisender über den Ort herfallen, um in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Kultur aufzusaugen. Die Unterkünfte, Hotels, Pensionen, die vielen netten B&Bs, ja selbst die Jugendherbergen sollten in der Hauptsaison von Juni bis August vorgebucht werden. Dass dieser Ansturm der Touristen der Region nicht nur Gutes gebracht hat, erläutert uns Petr Pandula an einem einfachen Beispiel. Da viele Musiker wissen, dass die bierseeligen Touristen im Affekt jede CD kaufen, die halbwegs irisch aussieht, so geben sich die meisten kaum eine große Mühe, hochwertige Produkte abzuliefern. Im heimischen Wohnzimmer aufgenommene und spielerisch oft dürftige Compilations ohne einen dirketen kulturellen Bezug, schlechte Artwork, von informativen Booklets ganz zu schweigen, diese Schwemme an wenig kreativen Einspielungen wird mittlerweile als ‚Irish Folk Tsunami‘ bezeichnet, mit ein Grund, warum auch immer weniger Folk im Radio gespielt wird. Das Erscheinungsbild der Tonträger steht oft im Gegensatz zu den zum Teil hervorragenden Livedarbietungen.

Dies ist einer der vielen Ansatzpunkte von Magnetic Music, klanglich wie optisch als auch inhaltlich überzeugende CDs zu produzieren. Auf die Frage, nach welchen Kriterien er die Musiker für das Irish Folk Festival aussucht, antwortet Pandula, dass die Musiker entweder eine spezielle Spielrichtung der vielen traditionellen Irish Folkstile repräsentieren oder etwas gänzlich Neues darstellen sollen. Auf jeden Fall müssen sie authentisch sein und keine Trivialgeschichten über Irland erzählen. Wie leicht tappen allzuviele in die vermeintlich so heimelige Atmosphäre irischer Klischees und bedienen dann die Reizwörter, die das Publikum angeblich gerne hört.

Uns interessiert natürlich, was er über die Rolle der Gitarre in der Irish Folk Musik denkt, die im Pub überwiegend Begleitaufgaben meistern muss. Es käme immer auf die Art des Spielers an, welche Variationen er den Akkorden entlockt, wie kreativ er mit den Harmonien umgeht, um vielleicht etwas jazziger zu klingen. Vor allem aber soll der Gitarrist mit seinen rhythmischen Impulsen die Solisten unterstützen und zu noch couragierterem Spiel inspirieren. Gitarristen, die dieses hohe Maß an Kreativität besitzen wären Tony MacManus (Schottland), Soig Siberil (Bretagne) und John Doyle oder Steve Cooney (Irland). Ein Gitarrist des gehobenen Konzertsaales ist der Schotte David Russell, der Jigs und Reels nicht nur im Originaltempo zu spielen vermag, er setzt auch noch eine der Klassikgitarre entsprechende polyphone Unterstimme hinzu, von den typischen Verzierungen und rhythmisch reizvoll gesetzten Harmonien ganz zu schweigen. Aktuelle Bands, die einen ganz eigenen und neuen Sound kreeirt haben, sind Lúnasa, Solas oder Beoga. Das von Peter Gabriel geförderte Projekt ‚Afro Celt Sound System‘ hat vor über zehn Jahren einen neuen Standard gesetzt und Percussion, Uillean Pipes mit Drum Loops zu einer neuen unglaublich groovenden Klangdichte geführt. Die belgische Band ‚Urban Trad‘ erweitert dieses Konzept mit interessanten computergesteuerten Effekten, Akkordeon und Balkanimpressionen. Alles tanzbare, lockere, moderne Musik mit Wurzeln im Irish Folk.

Wir beschließen zwecks weiterer Feldforschung den Abend bei einem gemütlichen Bier in einem der umliegenden Pubs ausklingen zu lassen. Man muss in Doolin seinen Kompass eigentlich nur nach zwei Richtungen austarrieren. Links oder rechts. Oberdorf oder Fisherstreet. Lieber ins O´Connor´s, ins
McDermott´s oder ins MacGann´s? Wo spielt heute Abend die Musik? Das ist hier die Frage.Die Session ist bereits in vollem Gange. Das Publikum sitzt oder steht, lauscht oder unterhält sich, während es für die fünf Musiker das Natürlichste der Welt ist, um einen runden Tisch zu sitzen und gemeinsam zu musizieren. Eine Geigerin kommt hinzu und fragt, ob sie mitspielen dürfe. Alle nicken, und schon geht es los. Niemand sagt die Stücke an. Gespielt wird alles auswendig. Wer eine Melodie kennt, der kann mitspielen. Ansonsten hört man einfach zu. Es ist kein Konzert im eigentlichen Sinn, eher eine offene Bühne, wo sich die Klänge der irischen Traversflöte mit dem Sound des Akkordeons, der Geige und einer Begleigitarre mischen. Spannend sind an diesem Abend auch die Darbietungen einzelner Solisten.
Eine Sängerin gibt im Sean Nos Stil ein unbegleitetes Lied zum Besten, wenig später erntet die Einlage eines älteren und recht rundlichen Bartträgers, der sich mit der Mandoline zu dem Lied ‚Banks of the Ohio‘ begleitet, gebührenden Applaus. Entgegen der pessimistischen Prognosen hat sich die Kneipenkultur in Irland seit Einführung des Smoking Ban im März 2004 erheblich verbessert. Die Leute bleiben prinzipiell länger, es wird wieder mehr gegessen. Auch haben die Kinder einen gesünderen Zugang zu der Welt der Erwachsenen mit ihren merkwürdigen Ritualen. Am meisten würden aber die Musiker selber profitieren. Viele ehemalige rauchende Musiker hätten mit dem Laster aufgehört und würden so der Gemeinde der Zuhörer auch länger erhalten bleiben. Man kommt ziemlich schnell ins Gespräch mit seinen Tischnachbarn und erlebt eine unverkrampfte Herzlichkeit, wie sie nur im Urlaub vorzukommen scheint. Wer mehrere Tage in Doolin verbringt, bekommt ein volles und lebendiges Programm geboten, das man in dieser Art woanders kaum erleben wird.

Sicherlich wird man im Pub nicht die gesamte Bandbreite aller spieltechnischen Möglichkeiten vorfinden, dafür aber bekommt man eine gute Portion echter handgemachter Musik, selbstverständlich unplugged. Wer mehr möchte, der soll es ruhig einmal mit einem Besuch beim nächsten Irish Folk Festival probieren. Dort verzichten wir zwar auf die gemütliche Pubatmosphäre, doch können wir sicher sein, von Petr Pandula handverlesene und hochkarätige Musiker und Ensembles präsentiert zu bekommen, die wir so in dieser Zusammenstellung auch in Irland kaum finden würden. In seinem Magnetic Music Cafe, gleich das erste Haus hinter der Brücke, treffen sich beide Welten. Was kann, ehrlich gesagt, denn schöner sein, als nach einem schönen Spaziergang an den Klippen bei einer schönen Tasse Tee dem alten und dem neuen Irland nachzulauschen?

SOUND OF DOOLIN

Ein kleiner Live-Mitschnitt aus einer der vielen Sessions

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